Ausbildung: Pferd mit hochgradig Kissing Spines (Teil 1)
Erschienen am 20.05.2011
In der Vergangenheit war es das absolute AUS für jedes Sportpferd. Doch es gibt Hilfe, wie Ausbilderin Anne Smatelka in ihrem mehrteiligen Bericht aufzeigt.
(von Anne Schmatelka)
Eine siebenjährige Stute mit sehr viel Potential wurde zur Ausbildung in "falsche Hände" gegeben. Diagnose nach zehn Monaten fehlerhaftem und unsensiblem Beritt: "Kissing Spines" in fortgeschrittenem Stadium im Bereich der Sattellage, im Bereich des Kreuzdarmbeingelenkes, massive Fehlbemuskelung, abgemagert, Probleme mit den Fesselträgern, Schleimbeutelentzündung im Nacken, Nackenbandreizung, Schwellung unter dem Maul, Verspannungen im Kiefer, ausgeprägter Unterhals, schlecht gestellte Hufe. Hinten neigt sie zur Bärentatzigkeit und vorne steht sie leicht vorgebeugt.
Hinzu kam nicht passendes Sattel- und Zaumzeug. Gebiss zu klein, zu scharf, Sattel in der Kammer zu weit, Kopfeisen zu eng, Schwerpunkt zu weit hinten, Schulter zeigte Schwellungen durch den Druck der Pauschen des Springsattels.
Wir haben also drei Problembereiche: a) Kopf, Genick und Hals, b) Rücken, c) Beine und Hufe.
Aufgrund der Schmerzen und der Entzündung im gesamten Körper und vor allem im Bereich der Wirbelsäule konnte die Stute in den letzten Monaten keine Muskulatur mehr aufbauen. Im Gegenteil, die Muskulatur ist atrophiert (hat sich zurückgebildet), das Pferd hat eine permanente Schonhaltung / Kompensationshaltung eingenommen. Hinzu kommt ein verändertes Gangmuster, Pass und Zügellahmheit. Sie hat massiv abgenommen. Die Rippen stehen hervor und in der Lendenpartie ist sie massiv eingefallen.
Sieht man die Stute laufen, bewegen sich die Hinterhufe meist an den Vorderhufen vorbei. Der Trab ist laufend, flach und eilig. Wenn sie zulegen soll, tritt sie im Trab hinten breit, kommt auf die Vorhand, rennt. Im Galopp hebt sie bei jedem Sprung die Kruppe hoch, um das Untertreten / Unterspringen zu vermeiden.
Beobachtet man sie, wenn sie auf dem Paddock steht und döst, nimmt sie immer eine Entlastungshaltung ein, dass heißt, sie stellt die Hinterbeine nach hinten heraus. Man erkennt dann auch sehr deutlich, dass sich die gesamte Oberlinie verändert hat. Der Hals-Rückenbereich erinnert eigentlich mehr an eine Hügellandschaft als an eine korrekte Oberlinie.
Ein Fotovergleich macht die Folgen sichtbar
Wir
haben zum Vergleich den Rücken einer gut gerittenen vierjährigen Remonte sowie eines 15-jährigen Wallachs aufgenommen und unter das Bild des Rückens unserer Stute gestellt. Die Oberlinien sind sichtbar gemacht. Man sieht auf den ersten Blick die Harmonie der beiden Oberlinien auf Bild 2 und 3 und die Disharmonie auf Bild 1.

Bild 1): Vor dem Kreuzdarmbein (1) ist eine massive Aufwölbung zu erkennen, im Bereich des Kreuzdarmbeingelenkes (2) eine Absenkung und auf der Kruppe (3) eine erneute Wölbung.
Um sich Linderung zu verschaffen, hat die Stute vor Monaten schon begonnen, den Rücken krampfhaft hoch zu drücken und im Bereich der Sattellage nach unten durchsinken zu lassen. Sie hatte nicht die Möglichkeit, den Rücken beim Reiten aufzuwölben, da ihr diese Möglichkeit durch den viel zu engen Hals (Hals nach unten gezogen, Rollkur) genommen wurde. Somit hätte sich eine korrekte Muskulatur auch nie entwickeln können. Die Nase war immer zu weit hinter der Senkrechten und sie lief kontinuierlich auf der Vorhand, entwickelte einen falschen Knick (siehe Grafik).
Irgendwann wird sie angefangen haben, widersetzlich zu werden, mit aller Macht gegen das Gebiss gearbeitet haben. Man war zwar noch in der Lage, den Hals irgendwie nach unten zu ziehen, aber die meiste Zeit hat sie mit der Kraft des stark ausgeprägten Unterhalses gegen die Hand gedrückt.

Die massive Absenkung des Rückens ist auch direkt hinter dem Widerrist zu beobachten. Vergleicht man diese Stelle wieder mit den Vergleichsfotos, zeigt sich, wie sehr die Stute den Rücken absinken lässt.
All diese Dinge haben im Laufe der zehn Monate zu Kissing Spines, all den anderen Problemen und leider auch zu Steigen in Stresssituationen geführt. Man mag zwar über weitere Stresssituationen gar nicht mehr sprechen, wenn man überlegt, dass dieses arme Pferd ein lebender Schmerz ist. Hätten wir diese Schmerzen, wir würden uns sicherlich nicht mehr so umgänglich, vorsichtig und anhänglich unserem Peiniger gegenüber verhalten. Man sieht, dass das Pferd regelrecht hingerichtet wurde.
Lassen Sie uns jetzt einen kleinen Ausflug in die Biomechanik machen:
Die meisten Reiter glauben, dass der Reiter durch den langen Rückenmuskel (M. longissimus dorsi; in der Grafik rot gekennzeichneter Muskel) getragen wird. Das ist falsch. Dieser fleischige Rückenmuskel dient ausschließlich der Fortbewegungdes Pferdes und nicht dem Tragen des Reiters.
Ein Pferd, das dauerhaft in absoluter Aufrichtung gearbeitet wird, wird im ersten Schritt versuchen, seinen Rücken durch Verspannung des langen Rückenmuskels anzuheben und später in der Regel den Rücken durchsinken lassen und dadurch die Verbindung zwischen Hinterhand des Pferdes und der Reiterhand verlieren.
Muss das Pferd nun aufgrund falschen Trainings seinen Rückenmuskel "umfunktionieren", um damit den Reiter zu tragen, kommt es zwangsläufig zu einer Überlastung des gesamten Muskelapparates, der Knochen, Gelenke, Sehnen und Bänder.
Bei unserer Stute ist aufgrund der massiven Schmerzen noch die starke nervliche Belastung entstanden. Schmerzen haben immer auch negative Auswirkung auf die psychische Stabilität eines Lebewesens. Diese Angst vor dem Schmerz führt zu weiteren Verspannungen der Muskulatur und zu einem veränderten Bewegungsablauf und einer anderen Körperhaltung.
Wir müssen annehmen, dass sie die meiste Zeit so geritten worden ist, wie auf der Grafik (Dr. Gerd Heuschmann) dargestellt. Schaut man sich das Eingangsbild des Rückens im Vergleich an, finden sich viele Parallelen.
Selbst wenn der Kopf in der Arbeit nicht ganz so weit aufgerichtet war - wie hier in absoluter Aufrichtung demonstriert (Grafik G. Heuschmann) - sowie der falsche Knick entsteht, drückt das Pferd den Rücken nach unten weg und beginnt, den Unterhals heraus zu drücken. Kein Pferd kann auf diese Weise dauerhaft gesund bleiben. Die Gesunderhaltung des Pferdes ist aber ausschließlichüber den korrekten Weg in die Tiefe möglich.
Beim Satteln zeigt die Stute ein auffälliges Verhalten. Sie tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen und hat panische Augen. Sie versucht dem bevorstehenden Schmerz durch das Anziehen des Gurtes und dem Druck auf den sowieso schmerzenden Rücken zu entfliehen, indem sie alle Muskeln ihres Körpers verspannt. Sie ist hart wie ein Brett. Da sie einen ausgesprochen guten Charakter hat, macht sie jedoch keinen Versuch, sich wirklich zu wehren, sondern erträgt den Schmerz mit fast apathischer Ruhe.
Wollte man dieses Pferd verkaufen, würde man heute gerade noch Schlachtpreis erzielen - bei einem gerade siebenjährigen Pferd - nach knapp einem Jahr Beritt.
Der Beginn des Neuaufbaus

Die Arbeit an der Longe ist jetzt zentrales Thema und das erste Ziel: der korrekte Weg in die Tiefe.
Das Handwerkszeug zum Longieren sollte auf die Bedürfnisse des Pferdes abgestimmt sein. Ein weicher, gut gepolsterter Gurt mit mehreren Verschnallmöglichkeiten. Die Dreieckszügel ausreichend lang, damit sich das Pferd in die Tiefe strecken kann.
Für den Longenführer:
- Handschuhe
- eine weiche, nicht zu dünne Longe
- eine ausreichend lange Peitsche, die nicht zum Schlagen dienen soll, sondern ausschließlich dem Aktivieren der Hinterhand.
Wir longieren sie täglich 20 Minuten auf einem sehr groß angelegten Zirkel, machen sogar meist ein Oval daraus. Auf die Innenstellung an der Longe wird im ersten Schritt verzichtet. Da die Stute nicht ausbalanciert ist, geschweige denn je gerade gerichtet wurde, kann sie sich nicht korrekt auf eine gebogene Linie einstellen. Dies merkt man auch daran, dass sie auf der geraden Linien nach rechts und links ins Schwanken kommt. Hat sie keine Anlehnung an die Bande, wird sie sehr unsicher in ihrer gesamten Bewegung.
Es wäre ein grober Fehler, von dem Pferd eine korrekte Innenstellung zu verlangen und dies durch den verkürzten inneren Dreieckszügel zu erzwingen. Das sowieso schon gequälte Tier würde sich unter diesem Druck zusätzlich verspannen, es würde zu Taktfehlern im Bewegungsablauf und oder zu eiligen Tritten und Verwerfen im Genick führen.
Die entspannende und "Rücken-aufmachende" Arbeit an der Longe wird in den nächsten zwei Wochen täglich fortgeführt. Nach einer Woche ergänzen wir die Arbeit durch Stangenarbeit und helfen ihr, wieder Vertrauen zum Menschen zu finden. Die Stangenarbeit gestaltet sich anfänglich schwieriger als gedacht. Die Stute wurde zwar angeblich zum Springpferd ausgebildet, aber die Arbeit mit Stangen scheint ihr unbekannt - im Gegenteil, sie hat große Angst und stürmt panisch davon. Wir beginnen wie bei der Remonte mit einer Stange. Nach einigen Malen darüber traben, lässt sie den Kopf dann auch entspannt fallen. Wir steigern die Anzahl der Stangen auf zwei, dann drei und binden diese drei Stangen in den nächsten Tagen immer wieder ein.
Nach zwei Wochen ist das Pferd in der Lage, sich leidlich gerade auf der gebogenen Linie zu bewegen, sich nach unten abzudehnen und in den Anfängen die Längsbiegung der Kreislinie aufzunehmen. Eine korrekte Längsbiegung und das nach Innen-Stellen verlangen wir nicht. Wir reduzieren uns auf die ersten drei Stufen der Skala der Ausbildung (Takt, Losgelassenheit und Anlehnung) ganz wie bei der jungen Remonte, die ihr Reitpferdeleben gerade beginnt.
Nach drei Wochen nehmen wir an der Longe ein kleines Cavaletti mit hinzu. Die Überlegung ist, ihr damit zu helfen, den Rücken noch weiter aufwölben zu können. Um ihr einen übermäßigen Druck auf der Zungen durch die Dreieckszügel zu ersparen und aufgrund der Erfahrungen mit den Trabstangen, lassen wir sie im ersten Schritt unausgebunden über das kleine ca. 30 cm hohe Hindernis traben. Bei ihrem ersten Versuch rast die Stute in heller Panik davon, überwindet das Hindernis mit einem riesigen Sprung, reist dabei den Kopf in die Luft und drückt den Rücken komplett nach unten weg - Modell Ziegenbock. Wir sind einigermaßen erschrocken, denn es ist davon auszugehen, dass ihr auch noch die Lust am Springen genommen wurde. Wir verschieben weitere Springversuche erst einmal auf unbestimmte Zeit.
Für ein Pferd mit Kissing Spines gibt es neben der korrekten Arbeit über den Rücken einen weiteren Bereich, der Bestandteil des Lebens werden muss. Es ist die Osteopathie. Die kontinuierliche Behandlung osteopathischer Läsionen (Blockaden unter anderem im Bereich der Wirbelsäule) sowie gymnastische Übungen, die die Mobilität des Pferdes gewährleisten, sorgen für schmerzfreie Arbeit unter dem Reiter, den Erhalt der Elastizität und ermöglichen den Aufbau korrekter Muskulatur.
Der einwandfreie, auf die Problematik abgestimmte Hufbeschlag, ein passender Sattel mit breitem Wirbelkanal, der richtig im Schwerpunkt liegt, in der Kammer nicht zu weit oder zu eng ist, die Schulter nicht einengt oder gar nach vorne rutscht oder nach vorne kippt, sind Dinge, die beachtet werden müssen, soll das Pferd mit Kissing Spines eine Chance erhalten, wieder schmerzfrei durchs Leben zu gehen und dem Reiter wieder Freude zu bereiten.
Im der nächsten Ausgabe schauen wir, wie sich unsere Stute in den letzten vier Wochen entwickelt hat. Wir machen einen kleinen Abstecher in die Osteopathie und geben Tipps für die ersten Arbeitsschritte unter dem Reiter.